Muslim sein im Abendland

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Was macht ein Muslim, wenn er krank ist? Er geht zum Doktor und lässt sich Medizin verschreiben. Während seines Krankseins bittet er Gott um Genesung, aber er achtet darauf, dass er seine Medizin pünktlich einnimmt, regelmäßig den Doktor zur Nachuntersuchung aufsucht, und so weiter. So handelt der Muslim im Sinne seiner Religion, des Islam.

Denn was die Frage der göttlichen Vorbestimmung und des eigenständigen menschlichen Handelns nach gesundem Menschenverstand betrifft, so besteht in beiden nach islamischer Lehre keine Gegensätzlichkeit. Es gibt keinen Fatalismus, kein Nichtstun einerseits und kein absolutes, ausschließliches Selbstbestimmungsrecht andererseits. Handeln im Sinne des menschlichen Wohlwollens verbunden mit der göttlichen Fügung, wodurch das Handeln gar erst möglich gemacht wird, ist ein Prinzip des Islam.

Das heißt, dass im oben genannten Beispiel das Wissen und die Fähigkeit des Doktors oder die Möglichkeit an Medizin zu gelangen genauso zur Fügung gehören, wie die Wirksamkeit und die Richtigkeit des Medikamentes und die anschließende Gesundung des Menschen.

Fragen wir, was dagegen ein Christ machen müsste, wenn er krank ist? Nun, theoretisch müsste er zur Kirche gehen, oder einen Priester zu sich nach Hause bestellen. Er müsste beichten, da die Krankheit nach christlicher Auslegung eine Strafe Gottes sei. Er sei also als ein Sünder entlarvt. Dann müsste er um Gesundheit beten. Ebenso wenig wie zum Gang zum Doktor würde er zum Studium der Medizin ermutigt werden.

Damit würde er sich als Christ auf das Heilige Buch der Christenheit berufen, das die Worte ihres Religionsstifters, Paulus von Tarsus, festgehalten hat: Es heißt nämlich in der Schrift: Ich lasse die Weisheit der Weisen vergehen und die Klugheit der Klugen verschwinden… Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt für Torheit erklärt? (1 Kor 1,19–25). So hatte Paulus von Tarsus für seine christliche Nachkommenschaft jedes irdisch vernünftige Handeln, und dazu gehörte medizinischer Fortschritt, untersagt. In dualistischer Weise trennte er alles weltlich Fleischliche von himmlisch Geistigem. Das Weltliche nannte er schlecht, das Geistige gut.

So war er an erster Stelle dafür verantwortlich, für die tausend Jahre Mittelalter Tür und Tor der wissenschaftlichen Erleuchtung, dem materiellen Fortschritt und der humanitären Lebensverbesserung verschlossen zu haben. Und da die mediävale Christenheit die Worte der Bibel noch für bare Münze nahmen, hielten sie sich auch wirklich an Paulus Worte und bildeten keine Ärzte aus, bauten keine Krankenhäuser und verbrannten Bibliotheken mit all den Beständen, die die Menschheit zu jener Zeit an wissenschaftlichen Werken besaß.

Dann kam die Wende! Zuerst zeichnete sich im zwölften und dreizehnten Jahrhundert ein Wille zum wissenschaftlichen Aufstieg ab. Pionierleistungen wie die Roger Bacons wurden jedoch zunächst von der Kirche im Keim erstickt. Aber ein endgültiger Durchbruch gelang im sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert. Humanisten, Säkularchristen, Philosophen der Erleuchtung bereiteten den Weg ins moderne Abendland. Das Christentum wurde anschließend stark reformiert oder unterstand einer Revision.

Mittlerweile sind wir auch nicht mehr im Mittelalter, es wurden Krankenhäuser eröffnet, wissenschaftliche Forschung getätigt, Ärzte ausgebildet und vor allem den Menschen mitgeteilt, dass die Macht der Worte des Paulus und der Kirche im täglichen Leben jetzt ein Ende habe. Die moderne Denkweise bildete sich heraus, dass man nunmehr im Falle einer Krankheit zum Doktor gehe und nicht in die Kirche und dass man Medizin einnehme und nicht ausschließlich beichte und bete!

Ähnliche Vergleiche lassen sich an Beispielen wie Astronomie, Mathematik, Geographie, Chemie, Physik, Biologie machen. Vom Christentum verpönt, vom Islam mit Glaube in Einklang gebracht, hielten die wissenschaftlichen Branchen im Laufe des Mittelalters Einzug zuerst in die morgenländische und anschließend von da aus in die abendländische Welt.

Aber das geschah auch nicht reibungslos. Nehmen wir das Beispiel Thomas von Aquin. Er setzte seine gesamte Kraft daran, um die Türen vor den philosophischen Ideen Ibn Ruschds, bekannt unter der Bezeichnung Averroismus, zu verschließen. Er entzog der Universität zu Paris die Genehmigung Averroismus zu lehren.

Der Widerstand der Christen gegenüber wissenschaftlichem Fortschritt zum Wohle der Menschheit wurde erst gebrochen, als sich das Christentum reformiert und Abstand von der wörtlichen Auslegung genommen hatte und nachdem alles Religiöse in die Kirche und auf den Sonntag verlegt worden war.

Das Christentum hatte sich dem Islam gegenüber stets in einer Konkurrenzsituation gefühlt. Nicht nur der mediävale katholische Widerstand gegenüber säkularen Ideen aus dem Morgenland, sondern auch die Kreuzzüge, und später die Verheimlichung des arabischen Einflusses auf die abendländische christliche Welt seitens der Säkularchristen zeugen von diesen Gefühlen. Ferner war den Christen, als sie das erste Mal mit Muslimen in Kontakt kamen, der Islam vollkommen unbekannt. Im Gegenteil kannten Muslime das Christentum durch die zahlreichen Koranverse, in denen seine Ideen, Sektenbildung und Geschichte erwähnt werden.

Über Andalusien, Sizilien oder die Kreuzfahrerstaaten kam es später dann trotz des christlichen Widerstandes zur Aufnahme humanistischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse: Arabische Ziffern, Dezimalsystem, mathematische und trigonometrische Formeln strömten ins Abendland. Medizinische und anatomische Werke erreichten europäischen Boden. Arabische Wörter, wirtschaftliche und politische Konzepte und Polizeiwesen flossen in europäischen Sprach- und Herrschaftsraum. Die arabische empirische Forschungsmethode siegte über die abendländische christliche Scholastik. Moderne Konzepte des heliozentrischen Weltsystems fegten alte christliche Vorstellungen über eine scheibenförmige, fixe und zentral gelegene Erde von der Bildfläche. Gerechte Verteilung der Reichtümer, basierend auf Abgaben der Reichen zum Profit der unteren Gesellschaftsschicht, ersetzte den Feudalismus. Und vor allem lernte das christliche Abendland Gerechtigkeit und Richten nach Maß. Konstitutionen sollten geschrieben werden, Recht und Unrecht sollten klar definiert sein, jeder sollte nur für die eigenen Taten verantwortlich sein. Die fatale alltägliche Umsetzung des Glaubens an den Sühnetod sollte gestoppt werden.

Anfangs ließ sich das Abendland belehren, aber es wurde anschließend unabhängig. Es reproduzierte bald nicht mehr, sondern produzierte selber. Die Wurzeln des arabischen Gewusst-wie-zu-leben blieben bestehen. Die Fundamente für eine neu aufstrebende abendländische Gesellschaft, welche humanistisch, empirisch, wissenschaftlich dachte, waren vom islamischen Arabertum gelegt.

Dann begann die Neuzeit. Zwischen den nunmehr in den Verfall gestürzten muslimischen Zivilisationen, vom Maghreb bis zum indischen Subkontinent, und den neu hervorgetretenen abendländischen Nationen gab es sodann weitere großräumige Begegnungen. Die abendländischen Kolonialmächte begannen die muslimische Welt zu kolonisierten. Nicht mehr dominierte das Morgenland, sondern die säkular-christliche Welt Europas und Nordamerikas.

Dann kamen die beiden Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts, welche zusammen mit den industriellen Revolutionen eine noch nie vorher dagewesene Situation einleiteten: einen wirtschaftlichen Aufschwung unbekannter Größe und der Beginn einer neuen Ära, nämlich die der Globalisierung.

Und das hatte zur Folge, dass sich die Völker vermischten: hatten die Abendländer anfangs das Morgenland kolonialisiert, so kamen anschließend die Völker des Morgenlandes arbeitssuchend ins Abendland.

Und was fanden sie vor? Eine Zivilisation, in der Gesetz, Recht und Ordnung, Toleranz, Gerechtigkeit, Sanftmut, Fürsorge, Disziplin, Wille zur Arbeit und zum Dazulernen, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Fortschritt, empirische Forschungsmethoden herrschen.

Die Ankömmlinge breiteten sich im Abendland aus. Aber bald kam die große Versuchung. Und diese stellte sich auch noch zweifach heraus.

Viele dieser Ankömmlinge waren ungebildet und brachten neben einer Religion auch noch nationale oder regionale Sitten und Traditionen mit. Schnell wurden Islam und Sitten verwechselt. Man hatte auch schon lange die wertvollen Eigenschaften der islamischen Zivilisation, wie sie einst geherrscht und das Abendland beeinflusst hatte, vergessen. Und als man die abendländische Grundsätzlichkeit spürte, dachte man ein der eigenen Religion weit voraus stehendes Gesellschaftsmodell vor Augen zu haben.

So fühlten sich die Einen minderwertig und versuchten die Gesellschaft des Immigrationslandes zu imitieren. Wiederum andere fühlten sich überlegen und versuchten alles „westliche“ als nicht vereinbar mit der eigenen Religion und Lebensweise von sich zu schieben.

Und so wie viele Muslime es selber sahen, nahmen es auch zahlreiche Abendländler wahr. Als unübertrefflich und tonangebend erkennen sie ihre eigene Rechtstaatlichkeit, ihr Demokratie- und Freiheitsverständnis, ihre wirtschaftliche und wissenschaftliche Dominanz. Sie empfinden Muslime weniger diszipliniert, zweitrangig, nicht in der Lage die Feinheiten des Lebens zu erfassen. Und sie denken, dass ein Hemmfaktor des materiellen und politischen Rückstands ihre Religion, der Islam sei. So lasten sie Unsitten wie Anarchie, Ehrenmorde, Zwangsverheiratung der Religion an und denken, dass praktizierende Muslime in das angeblich DUNKLE Mittelalter zurück fallen wollten. Kurz, es herrscht auf beiden Seiten bei vielen Menschen die Meinung, dass zwischen Islam und abendländischer Lebensweise Welten lägen. Und wie auch schon das Christentum müsse der Islam reformiert werden, so dass es den Muslimen erleichtert sei, sich anzupassen und zu integrieren.

Nun, dieses sind unbestreitbar Klischees, die häufig und gerne verbreitet werden. Genau an diesem Punkt liegt nämlich der Fehlschluss, dass es nicht die Religion ist, sondern die Menschen, die ein Zerrbild herstellen. Zahlreiche Muslime, aber auch Nicht-Muslime präsentieren den Islam auf ihre Weise, nach ihrem Verständnis, zuweilen schon mit Vorurteilen im Gepäck.

Aber der Einwand ist, dass, so wie es um jede Disziplin bestellt ist, man sich von fachkundlichen, in diesem Fall von muslimischen Lehrern unterrichten lasse, um die theoretischen Grundzüge des Islam zu verstehen und seine Unterweisungen zu lernen. Wie für jedes andere Wissensgebiet ist erst nach diesem ersten Schritt die Voraussetzung für ein vorurteilsfreies Ermessen gegeben.

Nur so wird sich der Horizont für jedermann öffnen und wird der Unterschied zwischen dem, was zum Islam gehört, und dem, wie Muslime handeln, erkannt werden. Dann entdeckt man:

  1. Der Islam ist die Religion per Exzellenz, die Gott als Einzigen, als Schöpfer und Alleinherrscher über die Welt und die Menschen anerkennt.
  2. Nur der Islam kann sich die Religion nennen, die zu allen Zeiten, auf jedem Fleck der Erde und an alle Völker gleich gerichtet ist.
  3. Die wahre Ehre des Menschen ist, sich als Geschöpf lediglich vor seinem Schöpfer zu verbeugen.
  4. Alle Menschen sind von Natur aus gleich, sie zeichnen sich lediglich vor Gott durch Frömmigkeit und gute Taten aus.
  5. Gott verlangt von den Menschen nicht nur Beten, Fasten und Wallfahren, sondern auch ein reines, vortreffliches Handeln gegenüber den Mitmenschen und der uns anvertrauten Umwelt, das so perfekt ausgeführt sei, als sähen sie Gott vor sich.

„Lies!“ war das erste Wort, das Gott vom Koran offenbarte. Und zahlreich sind die Worte des Propheten, die die Gläubigen zum Lernen auffordern. Lernen und Wissen ist ein Weg zu Gott, ob es sich dabei um religiöses oder sozusagen säkulares Wissen handelt. Und wenn dem so ist, dann kann kein Mensch für Unwissen entschuldigt sein.

Dann erkennt jeder, dass weder Faulheit, noch Begierde, noch Zwangsverheiratung, noch Anarchie, noch Ehrenmorde ihren Platz im Islam haben, sondern dass jeder Muslim durch seine Religion dazu aufgerufen ist, arbeitsam und genügsam zu sein, weder seine Kinder zur Heirat zu zwingen noch sie zu töten, und sich für Recht, Ordnung und Wohlstand einzusetzen.

So seien einer wie alle informiert, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und die empirische Forschungsmethode zur Zeit des arabischen goldenen Zeitalters nur herbeigeführt werden konnten, weil der Islam für solche Arbeiten Raum und Bedingungen schafft. Ohne Islam hätte es einen anderen Verlauf der Geschichte der Wissenschaften gegeben. Ganz sicher hätte die Entwicklung viel später eingesetzt. Die arabischen Ziffern, das Dezimalsystem, zahlreiche mathematischen Formeln und medizinische Erkenntnisse, geographische und astronomische Berechnungen, Chemie und Pharmazie wären vielleicht auf anderen Wegen zu uns gekommen. Dann hätte es eine andere Größe geben müssen, die das Abendland ermutigt hätte Fortschritte in Wissenschaft und Humanismus zu machen.

Man wisse nämlich, dass die Wissenschaft humanistischen Bedürfnissen dient. Medizinische Erkenntnisse, Ausbildung von Ärzten und der Bau von Krankenhäusern dienten dem menschlichen Wohl und Gesundheit. Für die Kontrolle der Apotheker und Händler auf sorgsame Arbeit wurde das erste Polizeiwesen etabliert. Astronomische und geographische Erkenntnisse dienten den Kartographen, was das Reisen und den Handel auf dem Land und zur See erleichterte. Landwirtschaftliche Revolutionen erhöhten die Ernteerträge. Ingenieure erarbeiteten die ersten Maschinen und Energiegewinnungsprojekte. Schon zurzeit der Araber wurden Hydro- und Windmühlen konstruiert und unter die Bevölkerung gebracht.

Dass Recht und Ordnung verallgemeinert wurde, liegt in der Neigung des Islam zugunsten des Gesetzes begründet. Allah hat Seine gesamte Schöpfung Regelmäßigkeiten und Naturgesetzen unterstellt und das gesittete Miteinander der Menschen durch gesellschaftliche Gesetze geregelt. Die Gesamtheit all dieser Bestimmungen ist in einer Art göttlichem Grundgesetz, der Scharia, festgehalten. Dieser Jurisprudenz zugrunde liegend konnten wirtschaftliche und politische Konzepte erarbeitet, und darauf aufbauend ein islamischer Rechtsstaat gegründet werden.

Bildung, persönliche Entfaltung, Polizeiwesen, redliche Verteilung der Reichtümer, Gerechtigkeit in der Rechtsprechung hießen die Schlagworte der Muslime in ihrem goldenen Zeitalter. Sie gaben sie dem Abendland weiter, aber vergaßen sie bei sich selber weiterhin durchzusetzen.

Folgender großartiger Vers sollte auch Basis für abendländische Gerechtigkeit werden.

Keine lasttragende (Seele) nimmt die Last einer anderen auf sich.

Und wenn eine Schwerbeladene (Seele) (zum Mittragen) ihrer Last aufruft,

wird nichts davon (für sie) getragen, und handele es sich dabei um einen Verwandten.

(Der heilige Koran, 35, 18)

Jeder erwachsene, geistig gesunde Mensch ist für seine eigenen Taten verantwortlich. Weder christliche Erbsünde noch Sühnetod herrschen in den Gerichtssälen der abendländischen Justizpaläste, wohl aber islamischer Gerechtigkeitssinn.

Schließlich haben viele Abendländler gemerkt, dass trotz einiger geringfügiger Unterschiede im Detail die wirkliche Leitkultur Europas eine islamische ist. Das ist der Grund dafür, dass zahlreiche Abendländler dann einen Übertritt zum Islam nicht als Widerspruch zur abendländischen Gesellschaft empfinden, sondern als eine Bereicherung, als einen Gleichklang. Sie leben als überzeugte Muslime in Harmonie mit ihrer alten, alltäglichen Umgebung und ihrer neuen Religion, dem Islam.