Kommen wir nach diesem historischen Exkurs zurück zur eingangs gestellten Frage: War das Evangelium das dem Messias geoffenbarte Wort Gottes in Form einer Schrift oder, wie Christen behaupten, eine Biographie Jesu, die sein Wirken beschreibt?
Das Wort Evangelium kommt in der Bibel 108mal vor, alle Stellen befinden sich im Neuen Testament. Davon wird es in drei von den vier Evangelien 19mal erwähnt (außer im Johannesevangelium), 12mal in der Apostelgeschichte, 73mal benutzt Paulus diesen Begriff, in den apostolischen Briefen kommt er nur im 1. Petrusbrief vor und das dreimal und schließlich in der Apokalypse des Johannes einmal.
Auffallend ist, dass der Begriff Evangelium in unterschiedlichen Wortgruppen gebraucht wird: das „Evangelium vom Reich Gottes“ bzw. „vom Frieden“, das „Evangelium Gottes“, das „Evangelium Christi“, das „Evangelium Paulus“, das „andere Evangelium“, das „Evangelium vom Engel“. In vierzig Prozent aller Fälle steht das Wort alleine.
Christen gehen davon aus, der erste Vers des Evangeliums nach Markus „Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ lege dar, dass das Evangelium eine Jesus-Biographie sein müsse, in der das Wirken des Messias zum Ausdruck kommt. Insgesamt kommt der Begriff im N.T. 19mal in der Wortgruppe „Evangelium Christi“ oder abgewandelt als „Evangelium von Christus“ oder „Evangelium von der Klarheit Christi“ u.a. vor.
Wenn man jedoch als Kritiker die Sache genauer betrachtet, dann stellt man fest, dass die historisch belegte Spannung zwischen den Gemeinden der Christen (Heidenchristen) und Nazarener (Judenchristen) sich auch in dem Gebrauch der Begriffe widerspiegelt. Wissend, dass die drei synoptischen Evangelien gemeinsame Quellen für das Verfassen ihrer Texte benutzten, und dass einiges Material aus nazarenischem Milieu stammt, kann man unbeirrt feststellen, auch Ausdrücke aus dem Milieu dieser Urgemeinde zu finden. So weisen alle drei Evangelien die Wortgruppe „das Evangelium von dem Reich (Gottes)“ vor, man findet sie im Ev. n. Math. viermal, im Ev. n. Marc einmal und im Ev. n. Luc. dreimal. Das ist auch weiterhin nicht wunderlich, denn groß war im nazarenischen Milieu die Erwartung des Endzeitpropheten verbunden mit der Gründung eines irdischen Reiches, wo die Religion Gottes in Frieden gelebt werden kann. Der Messias Jesus hatte als direkter Vorgänger des Endzeitpropheten das Evangelium erhalten, um die Gläubigen im Volke Israels auf die bevorstehenden Ereignisse vorzubereiten.
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das Wort Evangelium sehr selten in der apokryphen Literatur vorkommt. Zwei Passagen im Evangelium nach Maria sind jedoch interessant. Einmal die Worte Jesu vor seiner Himmelfahrt: „Geht also und predigt das Evangelium der Herrschaft (Gottes)!“ und dann die Worte der Apostel nach der Himmelfahrt: „Haben wir jetzt zu den Völkern hinaus zu gehen, um das Evangelium vom Menschensohn zu predigen?“ .
Wenn wir in unserer Analyse des Begriffes Evangelium fortfahren, dann erkennen wir, dass sich bei Paulus das Vokabular ändert. Wie wir wissen, repräsentierte Paulus das (Heiden)christentum und stand mit den Nazarenern in Konflikt. Die defensive Haltung Paulus macht sich ebenfalls in seinem Vokabular bemerkbar, das er benutzt, um sich immer wieder gegen Angriffe zu verteidigen, sich selbst zu empfehlen und zu prahlen, um von den Leuten wahrgenommen zu werden.
Häufig benutzt er wie in Apg. 20, 24 den Begriff „das Evangelium (der Gnade) Gottes“, um seine eigene Position hervorzuheben, als derjenige, dem vom Messias Jesus anvertraut worden ist, dieses Evangelium zu verbreiten. Sehr wichtig ist, dass zu dieser frühen urchristlichen Phase paulinischer Redaktionen der Gebrauch von „das Evangelium von Jesu Christo zu predigen“ auf den Ursprung dieses Dokumentes abzielt. Paulus betont, er habe das Evangelium von Christus erhalten, keineswegs aber, dass das Evangelium das Leben Christus dokumentiert.
Zur Apostelgeschichte muss gesagt werden, dass ihre Textanalyse darlegt, dass sein Verfasser Lukas das bestimmte Ziel verfolgte, die Auseinandersetzungen zwischen Paulus und der nazarenischen Urgemeinde zu übertünchen und ihre Ansichten zu harmonisieren. Vor diesem Hintergrund sind zum Beispiel Lukas Worte des Kapitels 15, 6-21 der Apg. zu verstehen. Dass jedoch Nazarener und Christen der apostolischen Zeit nicht eine Gemeinde im Einvernehmen, sondern zwei gegnerische Gruppen bildeten, geht sehr deutlich aus dem Vergleich folgender Sätze hervor. Die Worte des Paulus „weil wir aber erkannt haben, dass der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus“ (Gal., 2, 20) kontrastieren mit der Antwort des Apostel Jakobus: „willst du also einsehen, du unvernünftiger Mensch, dass der Glaube ohne Werke nutzlos ist? … wie der Körper ohne den Geist tot ist, so ist auch der Glaube tot ohne Werke“ (Jak. 2, 20 und 26). Diese beiden Aussagen weisen ausdrücklich darauf hin, dass sich beide Parteien schlichtweg gegenseitig ausschlossen.
Deshalb sind schließlich die Paulusbriefe wertvolle Dokumente. Paulus hat sie sehr früh und in eigenen Worten unmissverständlich ausgedrückt, so dass wir nicht interpretieren müssen. Er lässt zuweilen in seinen Briefen (z. B. Galaterbrief) seiner Wut freien Lauf, so dass wir davon ausgehen, dass er seine Gegner auch so sah. Und seine Gegner waren die gesetzeseifernden Nazarener, die seine Aussagen, der Messias sei ein gekreuzigter und auferstandener Gottessohn, stark kritisierten.
In dieser Hinsicht erfahren wir von Paulus, dass es zwei Evangelien gegeben hat, seins (z.B. Röm. 16, 25) und ein anderes (2 Kor. 11, 4). Das drückt er auch sehr stark zu Beginn des Galaterbriefes (1, 6-9) aus. Denn in Galatien hatten die von Jakobus ausgesandten Nazarener zugeschlagen, sie hatten die dort ansässigen Gemeinden des Volkes Israels aufgeklärt, dass Paulus ein Verführer sei und seine Predigten fasch seien. Folglich hatten die Galater sich von Paulus abgewandt, waren dem Nazarenertum beigetreten und hatten sich „zu einem anderen Evangelium“ (Gal. 1, 6) bekannt. Dieses andere Evangelium war „das Evangelium nach dem Fleisch“, welches auch er selbst, Paulus, noch zu Beginn seiner Karriere gepredigt hatte, wie er in (Gal. 4, 13) sagt. Damit meinte er, dass das Evangelium nach dem Fleisch das weltliche, mosaische Gesetz beinhaltete und bejahte. Das war das Evangelium, das Petrus predigte, das Evangelium der gesetzeseifernden Nazarener (Gal. 2, 7).
Was also das Evangelium des Paulus betrifft, so können wir davon ausgehen, dass es keineswegs eine Jesusbiographie war, denn für den weltlichen Jesus interessierte sich Paulus nicht. Wichtig war für Paulus, der erhöhte Christus habe ihn zum Apostel berufen und in die Welt gesandt (1 Kor. 1, 17), um den Heiden das Evangelium zu predigen (Röm. 1, 1). Paulus versteht den Ausdruck „Evangelium von Christos“ nicht als eine Lehre über die Taten des Messias, sondern er meint damit, es vom Messias erhalten zu haben. Ansonsten nennt er sein Evangelium eine Kraft Gottes und Worte, die ihm gegeben würden, um ein Geheimnis zu lüften (Eph. 6, 19). Sein Evangelium handele ferner von „dem Tag, an dem Gott das Verborgene der Menschen … richte“ (Röm. 2, 16). Es ist also ausgeschlossen, dass Paulus eins der vier kanonischen Evangelien gepredigt hat.
Und was schließlich das Evangelium der Nazarener betrifft, so war auch dieses keine Jesusbiographie. Paulus sah es im Gegensatz zu seinem Evangelium gesetzesfreundlich an Juden gerichtet. Es war „das Wort des Herrn“, nicht das Wirken des Messias, das die Nazarener „bezeugten und redeten“ (Apg. 8, 25). Um die Frage der Gültigkeit des Gesetzes als ein Kriterium des Evangeliums ging es Paulus auch im 2. Kapitel des Galaterbriefes, als er Petrus der Heuchelei beschuldigte. Was also beinhaltete das Evangelium der Nazarener, das auch Jesus predigte, außer der Betonung der Gültigkeit des Gesetzes noch? Wie wir eingangs sahen, wies es auf das zu kommende Gottesreich hin, als da sei das Auftreten des Endzeitpropheten „Perikleitos“ und dessen Gemeinschaft der Gläubigen.
Damit war das Evangelium, das der Messias Jesus erhalten hatte, gesetzesfreundlich und eschatologisch ausgerichtet.
Schließlich stoßen wir bei unserer Suche nach der Natur des Evangeliums auf eine sehr interessante Passage im 1. Petrusbrief, nämlich, dass „das Evangelium vom Heiligen Geist vom Himmel gesandt“ (1 Petr. 1, 12) worden sei. Was das zu bedeuten hat, lassen wir uns im nächsten Kapitel erklären.