Wie gelangte die Mathematik in unsere Schulbücher?

Wie gelangte die Mathematik in unsere Schulbücher?

Wenn wir eine dreistellige Zahl sprechen, dann beginnen wir mit den Hundertern, denen folgen die Einer, dann das „und“, zuletzt die Zehner. Das ist eine sehr besondere Lesart, wir machen es dabei genau wie die Araber, von denen wir es übernommen haben. Das haben wir diesem Herrn zu verdanken, der das Stellenwertsystem, die Algebra und das Rechnen mit Algorithmen entwickelt hat. Sein Name war Muhammad al-Khawarizmi (780-850).

Schon im Altertum hatten im indischen Subkontinent die Menschen ein Zahlensystem erfunden, das sich vom Römischen sehr unterschied. Letzteres besaß lediglich eine symbolische Darstellung der Zahlenwerte und konnte zum Nummerieren verwendet werden. Es konnte aber weder zum Rechnen heran gezogen werden, noch reichte es ins Unendliche oder ins Negative.

Durch die Ausbreitung des Islam gelangten die Muslime im neunten Jahrhundert mit dem indischen Zahlensystem in Kontakt. Dieses war ein Stellenwertsystem mit zehn Ziffern, mit denen jede beliebige Zahl gebildet werden konnte. Auch dem „Nichts“ war ein symbolischer Wert, die Null, gegeben worden.

Dieses Wissen gelangte nach Bagdad, in die Hauptstadt des Islamischen Reichs jener Zeit. Im Haus der Weisheit (gegründet im Jahre 825) wurden die indischen Werke neben griechischen ins Arabische übersetzt. Und einer der Wissenschaftler war der Perser Muhammad Al-Chawarismi (790-850), der sich besonders der neuen Zahlenformen und bis dahin bekannten Rechenmethoden widmete. Al-Chawarismi hatte ein besonderes Anliegen. Das islamische Rechtswesen, genannt Scharia, gab vor, wie im Falle eines Sterbefalles das Vermögen unter den Hinterbliebenen aufgeteilt werden sollte. Da aber diese Aufteilung gemäß der unterschiedlichen familiären Verhältnisse in Erbschaften immer unterschiedlich ausfällt, wollte Al-Chawarismi eine allgemeine mathematische Formel entwickeln, so dass die Anwälte und Richter leichtere Sache hätten. Und so war es auch, und sogar weit mehr.

Ein Stein wurde ins Rollen gebracht. Von nun an wurde bei den frommen Arabern alles berechnet, was die Scharia vorgab, wie zum Beispiel beim Verkauf von Feldern oder bei der Herstellung beziehungsweise der Kontrolle der Maßbehälter für Händler und der Zusammensetzung von Medikamenten. Und Al-Chawarismi ging noch weiter, er setzte alles, was ihm auf seinem Weg an konkreten Problemen begegnete, in seine mathematischen Formeln ein und berechnete auf dem Weg von Funktionen und Gleichungen die unbekannten Werte aus. Und diese genauen Rechenwege der Lösungen von Funktionen ersten und zweiten Grades legte er deutlich in seinem Buch über die Rechenverfahren durch Ergänzen und Ausgleichen dar. Er beseitigte Negativausdrücke durch Additionieren, Brüche durch multiplizieren und so weiter, bis dass der Wert der Unbekannten errechnet war.

In den folgenden Jahrhunderten entwickelten zahlreiche Mathematiker die Algebra: Thabit ibn Qurra (835-912), Abu Kamil (850-930), al-Battani (850-929), Hasan al-Khazin (900-971), Sinan ibn Thabit ibn Qurra (908-946), Abu-l-Wafa al-Busjani (940-998), al-Quhi (940-1000), al-Husazn al-Karaji (953-1029), Ibn al-Haitham (965-1040), Omar al-Khajjam (1048-1131), al-Samawal (1130-1180), Sharaf al-Din al-Tusi (1135-1213), al-Kaschi (1380-1429), al-Qalasadi (1412-1486)…

Funktionen ersten, zweiten und dritten Grades wurden gelöst und klassifiziert, die Arithmetik der Polynomen erfunden, Funktionen höheren Grades wurden duch Kegelschnitte gelöst, die geometrische Darstellungsweise wurde als Beweisführung benutzt, durch Integration wurde die Formel von abgerundeten geometrischen Flächen erstellt, die Volumen abgerundeter Gefäße wurden berechnet, Kurven wurden das erste Mal als geometrische Orte gesehen, als eine unzählige Anzahl von Punkten, die bestimmte Bedingungen erfüllen, Polynomen n-igen Grades wurden in perfekte Quadrate ausgedrückt und diese Ergebnisse in Form von Binomialkoeffizienten tabelliert, die Differenzialrechnung wurde erfunden, so dass Extremwerte für Funktionen ausgerechnet werden konnten… In der Arthmetik wurde in allen Grundrechnungsarten Fortschritte gemacht. Wurzeln zweiten, dritten, vierten, fünften Grades wurden gezogen, das Komma erfunden, in der Bruchrechnung Fortschritte gemacht… Al-Kashi erklärt zum Beispiel in seinem Rechenbuch wie man  zieht.

Im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert war die Mathematik zum Allgemeinwissen geworden. In zahlreichen Situationen des alltäglichen Lebens und in der Einhaltung der Gesetze des Islam war die Wissenschaft der Mathematik gefordert. Al-Qalasadi kannte eine mathematische Symbolik, was das Rechnen erheblich erleichterte. Die kubische Unbekannte wurde mit „ك“ (K) abgekürzt, die Unbekannte ersten Grades bekam das Symbol „ش“ (x), das Wurzelzeichen wurde der Buchstabe „ج“, und die vier Grundoperationen erhielten ebenfalls ihre Zeichen.

Mittlerweise waren diese Werke während der sogenannten spanischen Reconquista in christliche Hände gelangt, waren übersetzt worden und gelangten in west- und nordeuropäischen Raum. Das übersetzte Werk des Al-Chawarismi wurde in Lateinisch mit Algebra widergegeben, der Eigenname des Mathematikers mit Algorithmus übersetzt. Und dieser Branche der modernen Mathematik anverwandt waren die analytische Geometrie und Integralrechnung des Ibn al-Haitham, die Differenzialrechnung des At-Tusi und die Binomialrechnung des Omar al-Khayyam.

Wie andere Wissenschaften verbreitete sich die arabische  Mathematik auch in Italien, wo dann später die Ideen des Humanismus und der Renaissance ihren Ursprung hatten. Schon im dreizehnten Jahrhundert entdeckten Italienische Händler den Vorteil der arabischen Rechenkunst. Der Händlerssohn Leonardo von Pisa lernte Algebra und Arithmetik bei einem arabischen Lehrer in Nordafrika und war einer der ersten Abendländer, die die Algebra anwandten, um geometrische und nichtgeometrische Probleme zu lösen. Leonardo studierte unter Friedrich II, dem aufgeklärten Stauferkaiser des Heiligen Römischen Reichs, die Werke des Abu al-Kamil und verbreiete sein Wissen in Sizilien und Italien.

Nach langer Unterdrückung durch die katholische Kirche gelang es am Ende des Mittelalters weiteren westlichen Gelehrten sich durchzusetzen und die Werke der Araber zu studieren und ihre Arbeiten fortzuführen. So knüpften Descartes an die Arbeiten des Omar al-Khayyam und Fermat an die Werke des Ibn al-Haytham an, Pascal übernahm das Binomialkoeffizienten-Dreieck des Omar al-Khayyam.

Die Algebra gelangte jedoch auch auf dem Weg der sogenannten Cossisten nach Deutschland.  In Arabisch hieß nämlich die Unbekannte „schai“, das wurde in Italien mit coss übersetzt, und diejenigen, die mit der Algebra rechneten, das waren die Cossisten. Über die Alpen gelangte das coss-Rechnen nach Süddeutschland und wurde Händlerssöhnen von Rechenmeistern in Rechenschulen gelehrt. Aus coss wurde dann „x“, das die  mathematische Unbekannte symbolisiert und das von dort aus in die Klassenzimmer und die Schulhefte unserer Kinder gelangte.

Heute wird im Abendland aber leider immer wieder behauptet, die Mathematik wie auch jede andere Wissenschaft seien lediglich Erbe der griechischen Antike. Und leider wird nur selten darauf hingewiesen, dass das moderne Leben dem Islam seine moderne Denkweise schuldig ist.