Was geschah mit Jesus in den letzten Stunden seines irdischen Daseins?
Die Antworten auf diese Frage fallen nach christlicher und islamischer Darstellungen sehr unterschiedlich aus. Während beide Religionen von der Himmelfahrt Christi im lebenden Zustand ausgehen, gibt es bezüglich der Kreuzigungsgeschichte offensichtliche Unterschiede. Christen gehen von einer wirklichen Kreuzigung des Messias aus. Der Koran lehrt dahingegen die Kreuzigung einer anderen Person.
Es nahte das jüdische Passah-Fest, zu dem sich zahlreiche Juden nach Jerusalem begeben hatten. Auch Jesus und seine Apostel befanden sich in der Heiligen Stadt. Der Messias predigte aus dem Evangelium und prophezeite das bevorstehende Reich Gottes auf Erden. Diese Mission war einigen ungläubigen Juden ein Dorn im Auge und sie schmiedeten einen Plan, um Jesus festzunehmen und zu ermorden. Als der Messias und seine Apostel am Vorabend des Passah-Festes zu Hause verweilten, wurde er über diese Gefahr durch den Engel informiert. Jesus bereitete seine Apostel auf das zu Kommende vor: auf seine eigene Himmelfahrt; auf das Martyrium des Johannes, Sohn des Zebedäus, und des Jakobus, Sohn des Alphäus; auf den Untergang der Stadt Jerusalem und besonders auf den Endzeitpropheten Muhammad. Dann erfolgte der Verrat, der durch Allah vereitelt wurde. Der Allmächtige ließ den Messias in Schlaf fallen und von einem Engel lebend in den Himmel heben, während im Gewirr und in der Dunkelheit der Nacht gewaltbereite Juden eine falsche Person festnahmen. Es war Johannes, der Sohn des Zebedäus und Lieblingsjünger Jesu. Obwohl die Juden daraufhin Zweifel an der Identität des festgenommenen Mannes überkam, kreuzigten sie ihn dennoch. Es schien ihnen der Messias, aber gewiss waren sie nicht. Später proklamierten sie im Volke: „Gewiss, wir haben den Messias Jesus, den Sohn der Maria, Den Gesandten Allahs getötet.“
Woraufhin die göttliche Antwort lautet:
Sie haben ihn weder getötet noch gekreuzigt, sondern es erschien ihnen so.
Und diejenigen, die sich darüber uneins sind, befinden sich wahrlich im Zweifel darüber. Sie haben kein Wissen darüber, sondern folgen nur einer Vermutung.
Und sie haben ihn gewiss nicht getötet.
Nein! Vielmehr hat Allah ihn zu Sich emporgehoben, und Allah ist Allmächtig, Allweise.
(Der Heilige Koran, 4,157)
Und so gab es die einen, die den wahren Vorhergang miterlebt und bezeugt hatten, und die anderen, die die Falschmeldung des Kreuzestodes des Messias glaubten.
Die letzteren hatten zunächst einen Schreck zu überwinden, denn die angebliche Kreuzigung musste nicht nur psychisch verarbeitet, sondern auch religiös erklärt werden. Sie waren als griechisch-sprachige Juden davon ausgegangen, der Messias sei mit dem erwarteten siegreichen Endzeitpropheten identisch gewesen. Mit dem angeblichen Tod hätte der Messias also den Auftrag, die verhassten Römer aus dem Land zu vertreiben, nicht ausgeführt und sei also in seiner Mission erfolglos gewesen. Und so galt es, die ganze Sache doch noch als Sieg darzustellen. Deshalb erfand man die Auferstehungsgeschichte und sah den Sieg in der Bewältigung des Todes. Als Paulus wenige Jahre später auf diese von den Heiden als Christen benannte Sekte stieß, ließ auch er seiner Phantasie freien Lauf und erfand den Sühnetod, der das jüdische Gesetz ersetzen solle.
Auf der anderen Seite teilten die Apostel als Zeugen des wahren Hergangs den übrigen Nazarenern die Ereignisse mit. Sie waren in den ersten Stunden damit beschäftigt gewesen, Johannes zu beerdigen und für ihn einen Nachfolger zu wählen. Später aber fuhren sie unbeirrt in ihrer Mission fort. In den fünfunddreißig Jahren, die der Himmelfahrt Jesu folgten, reisten sie unermüdlich im Orient und in Kleinasien herum, um die Angehörigen aus dem Volk Israels zur Buße zu bewegen. Sie forderten sie auf, gottgefällige Taten fromm auszuführen und dabei rechtens an die lebende Himmelfahrt des Messias zu glauben, ebenso an seine Wiederkehr vor dem Tag der Auferstehung und an den Endzeitpropheten Muhammad aus dem Volke Ismails. Sie verbreiteten ebenfalls die Nachricht über die baldige Zerstörung Jerusalems und das Ende des Volkes Israels und legten den Menschen nahe, die Lehren des Messias zu befolgen.
Diese Aktivitäten werden in den frühen Schichten der Apostelgeschichte, aber auch in den Werken des Flavius Josephus und des apostolischen Vaters Papias sowie in einigen apokryphen Schriften bestätigt. Nicht einen gekreuzigten Gottessohn, sondern einen lebend in den Himmel gehobenen Messias predigten die Apostel nach der slawischen Version der Geschichte des jüdischen Krieges geschrieben vom Zeitzeugen Josephus. Selbst die sogenannte biblische Leugnung des Petrus, bevor der Hahn dreimal krähte, erhält eine plausible Erklärung. Petrus, der aufgefordert wurde, den Angeklagten zu identifizieren, bekräftigte, dass der Beschuldigte nicht der Messias war.
Auch nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 lebten die Nazarener auf der Ostjordanseite fort, von wo aus sie mit ihrer Wandermission und ihrer Gegenpredigt gegen die christliche Kreuzigungsgeschichte fortfuhren. Bezeugt wird dies von einem weiteren apostolischen Vater, einem gewissen Ignatius von Antiochien, der einige christliche Gemeinden Kleinasiens vor den angeblichen Irrlehren der Nazarener warnte. In der Zeit des frühen zweiten Jahrhunderts schrieb er Briefe, wie zum Beispiel den an die Philadelphier:
„Da ich einige (die die Kreuzigung bestreitenden Nazarener) sagen hörte: wenn ich etwas nicht in den Urkunden, in dem Evangelium finde, glaube ich nicht; und als ich ihnen erwiderte, dass es geschrieben steht, gaben sie mir zur Antwort: dies steht ja in Frage. Mir aber ist Urkunde Jesus Christus; mir sind die unversehrten Urkunden sein Kreuz, sein Tod, seine Auferstehung und der durch ihn begründete Glaube „
Dieses ist ein kostbares Zeugnis – auch wenn es von einem ihrer Gegner stammt -, das die Nazarener aus der Zeit um die Jahrhundertwende beschreibt:
- Sie glaubten an ein Evangelium, welches unterschiedlich zu den vier kanonischen war.
- Sie befolgten es ausschließlich.
- Sie bestritten, dass im Evangelium etwas über Kreuzigung, Tod und Auferstehung gestanden habe.
Und auch die Literaturgeschichte der vier kanonischen biblischen Evangelien gibt Aufschluss darüber, dass ihre Urtexte weder Leidensgeschichte, noch Kreuzigung, noch Auferstehungsgeschichte enthielten. Zu Beginn der Evangelienschreibung zirkulierte eine erste Jesus-Biographie unter dem modernen Begriff Quelle-Q, die derartige Geschichten nicht kannten. Aus dieser Quelle schöpften beispielsweise die Schreiber des Matthäus- und des Lukasevangeliums.
Wie aber kamen die heutigen Evangelien zustande, die die Kreuzigungsgeschichte des Messias Jesus enthalten? Parallel zur oben genannten Jesus Biographie Quelle-Q hatte nämlich auch ein unbekannter Autor die Leidens- und Kreuzigungsgeschichte des Lieblingsjüngers Johannes aufgeschrieben. Diese ist unter der Bezeichnung Urmarkus bekannt. Später fügte ein weiterer unbekannter Autor als Einleitung die Lebensgeschichte Jesu hinzu und wechselte den Namen Johannes gegen den des Messias Jesu aus. Dann wurde diese Schrift gekürzt und bildete weitgehend das, was heute unter dem Evangelium nach Markus bekannt ist.
Das Evangelium nach Johannes hatte eine unterschiedliche Entstehungsgeschichte. Aus unterschiedlichen Quellen – einer Sammlung von Messiasworten, einer Anzahl von Wundergeschichten, einigen sehr frühen Offenbarungssätzen – wurde eine Jesusbiographie erstellt. Aber parallel dazu wurde eine weitere Schrift über die Ereignisse des Leidensweges und der Kreuzigung des Lieblingsjüngers Johannes verfasst. Ein Kopist fügte den Satz hinzu, dass diese Jünger der μαρτυρος, zu Deutsch der Märtyrer, gewesen war. Dann erwähnte er die Präsenz von drei Frauen unter dem Kreuz an der Seite des Gekreuzigten, die Salome seine Mutter, Maria seine Tante mütterlicherseits und Maria Magdalena waren. Aber genau diese familiären Verhältnisse stimmen auf Johannes, Sohn des Zebedäus, zu, nicht aber auf Jesus. Später wurden die unterschiedlichen Texte miteinander verbunden und der Name des gekreuzigten Johannes durch den Namen Jesus ersetzt. Johannes Attribut als μαρτυρος, wurde nicht mehr mit dem Begriff Märtyrer sondern mit Zeuge übersetzt.
Was aber nun entstanden war, war ein in sich widersprüchlicher Text.
Was heutzutage in der Forschung an religionsgeschichtlicher Entdeckung zutage getreten ist, ist in zahlreichen Stellen mit dem christlichen Glauben unvereinbar, als seien es zwei unterschiedliche Wege. Wollte man lediglich anhand von christlichen Dokumenten wieder zurück zum wahren Ablauf der Geschichte finden, hätte man es schwer.
Die islamische Lehre führt dahingegen auf eine Piste, die in den Augen eines Abendländlers revolutionär gelten möge. Verfolgt man aber diese Piste, dann ergibt sich erstens, dass die offenen Fragen der christlichen Sichtweise eine plausible Antwort finden, und zweitens, dass sich hier und dort sowohl in biblischen als auch in nichtbiblischen Texten Hinweise und Parallelen zur islamischen Anschauung verbergen. Die Aufdeckung des wahren Verlaufs der letzten Stunden des Messias auf Erden vor seiner Himmelfahrt wäre dann ein interessantes und lohnendes Unterfangen.