Wenn wir über den Islam lesen oder einem Vortrag lauschen, dann werden wir in der Regel zunächst mit seiner Begriffserklärung konfrontiert, nämlich, dass Islam Unterwerfung und Frieden bedeutet. Ferner wird uns der Islam als die Religion des puren Monotheismus veranschaulicht, deren fünf Säulen 1. das Glaubensbekenntnis, 2. das fünfmal tägliche Pflichtgebet, 3. das Fasten im Monat Ramadan, 4. die jährliche Abgabe der Bedürftigensteuer und 5. die Wallfahrt nach Mekka sind. Darüber hinaus werden wir über die sechs Säulen des Glaubens unterrichtet, die da sind 1. der Glaube an Allah, Den Einzigen Gott, 2. an Seine Engel, 3. an Seine offenbarten Schriften, 4. an Seine Propheten, 5. an den Jüngsten Tag und 6. an die Vorherbestimmung des Guten und des Bösen. In Form dieser lehrhaften Darstellung lernt der Muslim oder der Nichtmuslim die Fundamente dieser Religion.
So war es auch dazumal an einem der Tage des frühen siebten Jahrhunderts, als der Engel Gabriel vor den Augen der Gläubigen in der Gestalt eines perfekten Menschen vor dem Propheten Muhammad – Friede sei auf ihm – Platz nahm und der Menschheit den Sinn des Islam und seines Glaubens lehrte. Und wiegesagt lernen heutzutage nicht nur Muslime diese Grundsätze, sondern es steht jedermann offen, sich Kenntnisse zum Thema zu erwerben.
Dennoch hat dieser Unterricht eine unterschiedliche Wirkung auf Muslime einerseits und Nichtmuslime andererseits. Die einen bereichern ihren Glauben und ihre Weise zu denken und zu leben, die anderen machen sich auf intellektueller Basis ein Bild von der Religion Anderer.
Aber was ist dieses Bild? Wie sehen Nichtmuslime ihre muslimischen Zeitgenossen? In einer Welt, in der man sich geographisch und zeitlich so nahe gekommen ist wie nie zuvor, bietet es sich doch nahezu an, über den Impuls nachzudenken, der den Muslimen die Kraft und die Entschlossenheit gibt, beispielsweise zahlreiche Stunden an heißen Sommertagen zu fasten. Oder man könnte sich fragen, warum Muslime ihren Schlaf, ihre Arbeit, ihre Reise, ihr Vokabellernen… unterbrechen, um sich fünfmal täglich im Gebet zu verbeugen? Was macht den Muslim gläubig und so unterwürfig unter das, was er göttlichen Willen nennt?
Nichtmuslime mögen hin und wieder bemerken, dass es doch auch ausreiche, wenn sich ein Muslim in ganz bestimmten Momenten – vielleicht im Monat Ramadan oder während des Freitagsgebetes – spirituell seiner Religion hingibt, um dann zwischendurch wieder auf das alltägliche Leben konzentriert zu sein. Etwa so wie ein Christ, der sonntags eventuell zur Messe geht oder vor seinem Mittagsmahl ein pater noster spricht, aber dann bis zum nächsten Gottesdienst seine Religion zunächst mal in den Hintergrund stellt.
Nun, dem ist nicht so!
Islam sieht nämlich den Umgang mit der Materie, das Einfügen in die Natur und die Weise zu leben als Bestandteile des göttlichen Willens. Zu bezeugen, dass die gesamte Schöpfung nach Gottes Willen besteht und funktioniert, und zu handeln, wie es Gott befohlen hat, so dass das menschliche Handeln im Einklang mit der Schöpfung ist, ist der Kernpunkt dieser Religion.
Und dazu gehört ein wichtiger Umstand, nämlich dass der gläubige Muslim sich als Gottes Eigentum sieht:
Gewiss,
mein Gebet und mein Opfer,
mein Leben und mein Sterben
gehören Allah,
dem Herrn der Weltenbewohner.
(Der Heilige Koran; 6, 162)
Die Frömmigkeit des Muslims besteht darin, dass er folgende Worte als Gottes Willen anerkennt.
Und Ich (Allah) habe die Jinn und die Menschen
nur (dazu) erschaffen, damit sie Mich verehren.
(Der Heilige Koran; 27, 56)
Dementsprechend ist das gesamte Leben Gottesdienst. Aber wie ist das zu verstehen? Schwer wird es, diese Anschauung zu erfassen, wenn man dem christlichen Grundsatz, gebe Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist, zu nahe steht.
Nur wenn man sich von diesen abendländischen Vorstellungen löst, versteht man, dass der Mensch dazu aufgerufen wird, die Schöpfung weder als Außenstehender zu betrachten noch sie auszubeuten. Er soll sich jedoch als Bestandteil der Schöpfung sehen, dem Gott die spezielle Erlaubnis erteilt hat, sich alle übrigen Dinge auf der Erde untertan zu machen. Aber nicht irgendwie, sondern nach einer bestimmten Anleitung. Und diese Anleitungen sind die göttlichen Offenbarungen in Form von Schriften, von denen der Koran die definitive ist.
So ist die höchste Stufe in Sache Frömmigkeit in der Tat die eigene Untertänigkeit anzuerkennen, sich als Eigentum Gottes zu verstehen und sein Leben im Dienst Gottes zu gestalten.
Aber der springende Punkt ist, dass dieses Gott gewidmete Dasein nicht lebensverneinend sondern bejahend ist. Denn es gehört zum dankbaren und anständigen Benehmen, von Gott geschaffene lebensbejahende Prozesse und Gegenstände zu akzeptieren und in Empfang zu nehmen. Um Gott sein Leben zu widmen, bedarf es nämlich nicht ausschließlich des Betens oder des Zölibates wie nach christlichem Verständnis.
Nein! Der Islam ermutigt den Menschen, sein Leben nach den von Gott gewollten Maßstäben zu leben und die Absicht zu haben, Gott dafür zu gefallen und von Ihm belohnt zu werden. Wenn der Muslim also Gutes tut und Schlechtes meidet und auf einem Gott genehmen Weg wandelt, wenn er also verantwortungsbewusst seine Pflichten erfüllt, weil er weiß, dass Gott ihn beobachtet und von ihm Rechenschaft fordern wird, dann werden ganz alltägliche Aufgaben zu frommen Verrichtungen.
Als erläuterndes Beispiel sei die berufliche Laufbahn aufgeführt. Zum Vergleich sei zunächst ein typischer Karrieremensch dargestellt, der als Ziel seines Studiums und des sozialen Aufstiegs lediglich die Gehaltserhöhung und den Erwerb von Prestige vor Augen hat. Er sucht Respekt und Gunst bei seinen Ebenbürgern und unterliegt in all seinen Anstrengungen dem materiellen Ansporn.
Vielleicht hat dieser Mensch einen Kollegen, der ihm sehr nahe steht. Nehmen wir an, dieser Kollege ist ein gläubiger und frommer Muslim, der dasselbe Studium absolvierte, dieselbe Rangstufe innehat und dasselbe Gehalt bekommt. Trotzdem befindet sich zwischen beiden ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht.
Der gläubige und fromme Muslim weiß, dass ihm Verantwortung obliegt. Für seine Firma oder seinen Arbeitgeber muss er vertrauensvoll arbeiten; wenn er es nicht tut, hätte er jemanden hintergangen. Und da Gott nicht die Übeltäter liebt – und das weiß der Muslim – versucht er sich von jeder Missetat zu distanzieren. Wiegesagt sucht er nicht die Gunst der Menschen, sondern lediglich die Zufriedenheit Gottes. Wenn er dann nach Jahren treuen Handelns beispielsweise versetzt wird und Lohnerhöhung bekommt, dann sieht er diese als ein Geschenk Gottes für sein irdisches Leben an. Dank zollt er nicht nur seinen Vorgesetzten, sondern besonders Gott. Schließlich meditiert er: „Oh mein Gott, Dir gebührt alles Lob und der Dank.“
Und wenn wir das Ziel seiner Arbeit und seiner Anstrengung beleuchten, dann erkennen wir ebenfalls, dass es sich um Gottesdienst handelt. Ihm wurde der Auftrag erteilt, für seine Familie Sorge zu tragen. Anstelle an Bereicherung, materielle Vorteile oder Amüsements zu denken, ist es ihm wichtig, dass seine Familie ein dezentes Leben führt und dass er ab und zu Bedürftigen unter die Arme greifen kann.
Der gläubige und fromme Muslim geht also in seinem Leben durch ein Geflecht von irdisch-materiellen und spirituell-religiösen Gedanken und Aufgaben.
Es gibt aber nicht nur Angelegenheiten, die er selber entscheiden kann, sondern sehr häufig geschehen Dinge, die er weder vorhersehen noch beeinflussen kann. Er ist sich ebenfalls bewusst, dass kein anderer ihm erlaubt hat, sich in genau dieser Situation zu befinden, als nur Gott. Und deshalb bittet er Ihn stets für seine zukünftigen Angelegenheiten um Hilfe. Selbst wenn er vor einer schweren Entscheidung steht, bittet er Gott, dass seine Entscheidung die richtige sei. Und wenn er sich in einer aus seiner Sicht ungünstigen Lage befindet, fügt er sich dem Schicksal, das Gott für ihn gewählt hat. „Kheir“, „Gut ist es für mich, der andere Weg war dann der schlechtere für mich“ sagt er sich. Und seine Mitmenschen ermutigen ihn und raten ihm zur Geduld.
Der muslimische Kollege hat wie jedermann in seinem Leben Hoch und Tief durchschritten, mal hat er eine Prüfung nicht geschafft, dann hat er sein Staatsexamen mit Auszeichnung bestanden, mal hat er zahlreiche Absagen auf Bewerbungen und danach seinen Traumjob bekommen. Vielleicht hat er eine Menge Geld verloren oder ein Familienmitglied ist nach langer Krankheit gesundet. Aber eines ist gewiss, er hat seinen Weg durchschritten, der ihm von Gott vorgegeben worden war.
Im Falle, dass die Herausforderungen in seinem Leben überwogen, hat er Standhaftigkeit und Geduld gezeigt. Anstatt zu deprimieren, der Alkoholsucht zu verfallen oder gar daran zu denken sich das Leben zu nehmen, schöpft er Kraft im Glauben an sein Schicksal und an die Belohnung im Paradies, im Gebet und in der Bitte um Besserung seiner Situation und in der Unterstützung durch seine Mitbürger, die wie er ein Gottgefälliges Leben führen wollen.
Und im Falle, dass er ein leichtes Leben hat, hat er ebenfalls Standhaftigkeit aber auch Verantwortungsgefühl an den Tag gelegt. Hatte ihm Gott ein Leben mit materiellen Gütern, Gesundheit und Kraft geschenkt, so hat er davon gespendet, um Gottes Segen und Sein Gefallen zu erlangen.
Abschließend sei gesagt, dass Islam also viel tiefgreifender zu erfassen und zu leben ist, als in Vorlesungssälen vermittelt wird. Er ist der Weg der Mitte und der Vernunft. Weder die Welt verneinend, noch in maßlosem Materialismus schwelgend, lehrt der Islam den Menschen, sich in die von Gott geschaffene Umgebung und in den von Gott bestimmten Weltverlauf harmonisch einzufügen.
Tut der Mensch dieses nicht und verneint auch noch den Islam, bringt er durch Zerstörung der Umwelt, seiner Familie, seines Körpers Verderben über sich und seine Mitmenschen. Weder sein Hochmut noch sein materieller Fortschritt können ihn vor seinem Ende retten. Dann wird er sehen, dass er keine wahre Macht hat, denn die Herrschaft liegt bei Gott allein.
Tut er es wohl und unterwirft sich den von Gabriel gelehrten Säulen des Islams und des Glaubens und bereichert diese mit der Anerkennung der Schöpfung und des Schicksals als von Gott gewollt, und verhält sich frei von Hochmut, dann hat er sein Heil und seinen Frieden gefunden.
Genauso bestätigte der Messias Jesus, der Sohn der Maria, dass er als Diener Gottes und mit all den ihm auferlegten Bedingungen zum wahren Frieden findet.
„Ich bin wahrlich Allahs Diener;
Er hat mir die Schrift gegeben
Und mich zu einem Propheten gemacht.
Und gesegnet hat Er mich gemacht,
wo immer ich bin,
und angeordnet hat Er mir,
das Gebet zu verrichten
und die Abgabe zu entrichten,
solange ich lebe,
und gütig gegen meine Mutter zu sein.
Und Er hat mich weder gewalttätig
noch unglücklich gemacht.
(Der Heilige Koran, 19, 30-32)
Dann ist der gläubige und fromme Muslim in der Lage, selbst in Momenten wie des Sterbens zu bezeugen, was auch der Messias damals sagte:
„Und der Friede sei auf mir am Tag,
da ich geboren wurde,
und am Tag, da ich sterbe,
und am Tag,
da ich wieder zum Leben auferweckt werde.“
(Der Heilige Koran, 19, 33)